Märchen

Ausstellung Märchen

6. bis 29. Oktober 2017


Märchen

Sie sind so alt wie die Kommunikation zwischen Menschen. Von Mund zu Mund wurden die Geschichten weitergegeben, vielfach von Personen, die weder lesen noch schreiben konnten. Märchen sind eine sich ständig verändernde Darstellung gesellschaftlicher und menschlicher Umstände, wie sie erdacht, erwünscht und geglaubt werden. Sie entsprechen nicht der Realität, obwohl sie all das widerspiegeln, was Tatsache ist, oder was dem menschlichen Bedürfnis nach Vergeltung, Rache, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung entspricht. Das Paradis bleibt dabei Illusion, denn die Geschichten, Sagen und Mythen gehen von Ungerechtigkeit, Leid, aber auch von Macht und Rivalitätsproblemen aus und auf der Strecke bleibt der einfache Mensch, der ohne seine Fantasie untergehen würde.
27 BBK-Künstler haben sich des Themas angenommen und die Erzählungen unserer heutigen Zeit visualisiert. Dabei ist zaubern erwünscht, denn sonst ginge viele garnicht. Magie spielt also eine sehr bedeutende Rolle. Lassen Sie sich überraschen.

Es nehmen 27 Aussteller und 5 Autoren, sowie ein Kontrabassist und 2 Performance-Künstler teil.
Kuratorin der Ausstellung Sibylle Missoum-Spahlinger
Vernissage ist am Freitag, den 6. Oktober um 19.30 Uh im BBK Frankfurt, Hanauer Landstrase 89.
Die Ausstellung läuft vom 6. bis 29. Oktober 2017
Öffnungszeiten sind Fr, Sa, So, Mo jeweils von 16 bis 20 Uhr.
Die literarische Matinée findet am 15. Oktober um 11 Uhr in unseren Räumen statt.
Geplant ist sie bis 14 Uhr.


BBK-Centrum
Hanauer Landstr. 89
D-60314 Frankfurt am Main



Fotos: Barbara Walzer

Fotos: Denis Merbach

Eröffnungsrede zur Ausstellung am 6.10.2017

Um das Wesen des Menschen zu begreifen, braucht es Märchen. Märchen oder Mären sind Botschaften in Erzählform, die ursprünglich von Mund zu Mund weiter gegeben, wahrscheinlich so alt sind, wie die Menschheit selbst. Niemand spezielles hat sie gemacht. Sie haben sich vielmehr so gefügt wie ein Gerücht, haben sich verbreitet und neu geformt, jenachdem, wie sie verstanden und weitergegeben wurden. Märchen sind eine lebendige Erzählform, in der sich Wünsche und Hoffnungen, aber auch Ängste und Tabus der jeweiligen Gesellschaften zeigen.

Keinesfalls sind sie realistische Darstellungen, vielmehr verkehren sie Bestehendes oft ins Gegenteil. Das Böse zeigt sich freundlich, der Feind wird zum Verbündeten, das Unerreichbare wird möglich. Um diese Hinterhältigkeiten zu erkennen und ihnen entschlossen Widerstand zu bieten, braucht es Tapferkeit und Durchhaltekraft, Glauben an sich selbst und die Sache und den unbeugsamen Willen, sein Ziel zu erreichen.

In diesem Prozedere ist der Mensch seinem Schicksal unterworfen. Der liebende Prinz wird von einem bösen Zauber in einen Frosch verwandelt, der von der Prinzessin erlöst werden muß. Die List der Geschwister Hänsel und Gretel, die der kurzsichtigen Hexe statt ihrem Finger, an dem sie sehen kann, wie weit ihre Mastkur gediehen ist, um sie zu schlachten und zu verspeisen, einen Knochen durch das Gitter des Gefängnisses halten, entkommen so dem Tod. Anstelle der befreiten sieben Geislein, werden dem bösen Wolf der sie zuvor verschlungen hatte, Wackersteine in den Bauch gefüllt. Er ertrinkt im Brunnen, nachdem ihn diese Last nach unten zieht. Solche Geschichten sind immer wieder Symbole, die man jederzeit hören und lesen kann.

Sie zeigen aber noch etwas anderes. Sie zeigen die Kehrseite der menschlichen Psyche. Kein Mensch ist, wie er vorgibt zu sein. Keine Handlung geschieht ohne Hintergrund. Keine noch so durchdachte Zivilisation kann dem Mensch voll Genüge tun. Immer bleibt ein Rest seiner Wildheit, seiner Agression bestehen, die, wenn sie nicht durch äußere Anlässe wie Krieg oder Katastrophen, Unglücksfälle oder sonstige, vom Mensch herbeigeführten Fehler ausgelebt wird, ins Destruktive mutiert, in Mord und Totschlag, in Kriminalität, in Neid und Mißgunst. Dabei ist der Mensch Opfer seiner selbst. Mit all seiner Intelligenz und Denkfähigkeit ist es ihm nicht möglich, sich darin zu ändern. Er kann die Zusammenhänge bestenfalls erkennen und dafür gibt es Märchen.

Märchen sind so ähnlich wie Träume. Man kann darin fliegen, unter Wasser leben, sich verwandeln, übernatürliche Kräfte entwickeln, in eine andere Zeit mutieren. Einfache Dinge, mit denen wir es tagtäglich zu tun haben, entwickeln plötzlich ein Eigenleben und die Selbstverständlichkeit unseres Benutzens von ihnen schwindet. Es gibt eine Menge Märchen, die von dem Erstaunen eines Kindes handeln, welches sich plötzlich in einem Wald hoher Grashalme befindet. Und es gibt ein enormes Bedürfnis, dieses Staunen, diese Überraschung erleben zu können, wo wir doch in einer Welt leben, die wir glauben, beherrschen zu können. Die Selbstverständlichkeit wird zur tödlichen Fessel und gleichzeitig verlieren wir unser Selbstbewußtsein und damit uns selbst. Genau das aber macht das Kind in dem Wald der Gräser, von denen es sich überraschen läßt und sich öffnet für die Naturgeister, für den Wind, das Wasser, die Pflanzen, die Tiere. All das, was sich die moderne Industriegesellschaft vom Leibe schaffen will. Märchen sind eine lebendige Form, sich seine Träume bewußt zu machen und damit sich selbst zu verstehen.

Der Mensch hat sich nie verändert. Egal ob als unsterblicher Gott oder als Helden gefeiert, als Slumbewohner oder als Industriemensch lebend. Immer strebt er dem Höheren zu und sieht dabei das Nächstliegende nicht, was ihm doch das Leben geben könnte. Er kämpft um Macht. In der Mythologie spielt ein Gott den anderen aus und das endlos. Der Mensch hat nur eine untergeordnete Rolle, denn er ist sterblich. Sein Leben dient dazu, die Götter zu ehren, ihnen Opfer darzubringen und sie zu bestätigen. Höchstleistungen vollbringt er dabei, denkt man an die Kirchen, Kathedralen, Pyramiden, Königsgräber. Trotzdem bleiben die Grundthemen allen Lebens ungelöst. Und so entwickelten sich Sagen, Mythen, Epen, Dramen, und die verschiedenen Literaturformen, wie Roman, Lyrik, Autobiografien und viele mehr. Sehr früh spielt der Gesang, also das Lied, eine bedeutende Rolle und die Art des Gesangs verriet dem Hörer genau das, worum es ging. In der Ballade vereinen sich epische, lyrische und dramatische Elemente Die Eindringlichkeit des Singens entspricht der Erzählform des Märchens. Es ist eine Kunstform, in der sich der Mensch wiederfinden und aufgehoben fühlen kann, mit all seinen Ängsten, Zweifeln und Zuversichten. Sie sind eine Weise, in die er jederzeit eintreten und sich beteiligen kann. Denn sie sind der weltweite Ruf der Menschen nach Leben, nach Recht und Gerechtigkeit, nach Verständnis in den vielen Nöten und Einsicht in seine eigene Unzulänglichkeit.

Im 17. Jahrhundert begannen als bekannteste die Gebrüder Grimm mit dem Aufzeichnen der bis dahin von Mund zu Mund getragenen, und sich ständig veränderten Märchen. Natürlich wurde dadurch ihr Charakter anders, aber auch die Gesellschaftsformen waren andere geworden. Das Märchen war nicht mehr ausschließliches Transportmittel für Informationen und erst recht nicht mehr die Plattform, um Fantasien, Gerüchte und Ahnungen zu entwickeln, was man bis dahin besonders im Orient erleben konnte. Einer saß da und erzählte und der nächste kam dazu und erzählte weiter und so schloß sich eine tagelange Zusammenkunft vieler Dorfbewohner an, die so ihre Nöte und Hoffnugen verbalisieren und sich Rat holen konnten. Ein Geflecht aus Kultur und Glauben gab ihnen Halt und Hoffnung.

Seit den Aufzeichnungen wurden die Märchen zu Sagen, zu Bildern, zu Symbolen mit teilweise feststehendem Charakter. Hexen, Zauberer, Besessene, böse und gute Tiere, Stiefmütter, die ein neidisches Doppelleben führten. Es gab immer mehr Märchensammler, Hauff, Anderson, Wichert, die die Märchen zu Volksmärchen oder Kinder- und Hausmärchen machten. Es war die Zeit der Romantik und alles endete gut. Das Böse wurde bestraft und das Gute kam zu seinem Recht.

Es gab auch viele Autoren, die sogenannte Kunstmärchen schrieben, die meißt umfangreicher und nicht so leicht verständlich waren, wie die Volksmärchen.

Heute kennen wir die Märchensammlungen der Völker und wir kennen die Kindermärchen von Astrid Lindgrin mit Pippi Langstrumpf und Michael Ende mit Momo. Inseln, auf denen sich Kinder für eine Zeit nieder lassen können. Märchen gibt es in jedem Kulturkreis, z.B. russische Zaubermärchen oder norwegische Volksmärchen.

In unserer Zeit gibt es die Fantasie-Märchen, man denke an Harry Potter, und das große Interesse, was Kinder und Erwachsene in seinen Bann zieht. Auch die Fantasie-Märchen, die auf der IAA mit besonderen 3-D-Brillen visualisiert werden. Einen Moment Herrscher zu sein, das wünscht sich jeder. Aber was ist mit dem, der da nicht mithalten kann? Gibt es heute noch Märchen, die auch darüber berichten? Oder haben die alten Märchenfiguren etwa ausgedient? Wer kann heute noch zaubern, gibt es das überhaupt noch?

In dieser Ausstellung zeigen 25 Künstler ihre Märchen, die von dem Kontrabassisten Carsten Hundt begleitet wird. In der literarischen Matinée am 15.10. lesen dann 4 Autoren ihre Märchen und stellt die Performance-Gruppe „Prompte Rührung“ Märchen in lebenden Skulpturen dar.

Nun lassen Sie sich, liebes Publikum, von der Verzauberung berühren und denken Sie, dass das keine nur Geschichten sind, vielmehr Parts von Ihnen selbst.

Sibylle Missoum-Spahlinger
Bildende Künstlerin und Schriftstellerin
September 2017